Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Wenn es etwas billiger sein darf
Dietrich Maschmeyer
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Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Dietrich Maschmeyer »

Da wird einem Gebäude eine Stahlgerüstkonstruktion vorgehängt, die pure Dekoration ist - und die wird so schlampig angebracht, dass sie beim nächsten Windstoss runterfällt. Die Bauhaus-Gründer rotieren in ihren Gräbern: Aus "form follows function", also der Bauhausforderung nach Ehrlichkeit und Sichtbarkeit der Strukturen wird "Kitsch as Kitsch can". Da wird den Gebäuden irgendein Schrott vorgehängt, damit schnittiger und "technischer" aussieht. Architektur wie an einer Kirmesbude! Das ist noch kitschiger als jeder Renaissancestuck auf den Gründerzeitfassaden, die damit ja auch aussehen sollten wie der kleine Bruder des Heidelberger Schlosses. Und die Kosten?

Hat mal jemand den Gebrauchswert untersucht? Im Bereich der Aufgänge und Lichtaugen sind die Bahnsteige so schmal wie im Bahnhof ZOO. Und der war doch angeblich zu eng. Die Toiletten sind im Keller: Wen es obe drückt, der muss erst 25 m in die Tiefe fahren! Soiwas hätte nach den Pannen am Kasseler Hauptbahnhof eigentlich auch nicht mehr passieren dürfen...

Fehlt nur noch, dass auch noch die phänomenale Stahl-Glas-Halle zu wackeln anfängt. Wie mal berichtet wurde, hatten etliche Statiker Bedenken, sie so auszuführen (statisch faktisch mehrfach unbestimmt), und eine traditionellere Form vorgeschlagen.....

Von Gerkan versteht sich als "Künstler", und begibt sich ungern in die Niederungen der technischen Ausführung. Was wir statt solcher Scharlatane, die in der Selbstinszenierung Meister sind, aber blutige Pfuscher, wenn es um Architektur geht, brauchen, sind endlich wieder Baumeister, die Gebäude aus der Struktur heraus konsquent an den sinnvollsten Konstruktionen orientiert, entwickeln. Jedes Fachwerkhaus, jede gotische Kathedrale, jede Eisenbrücke, jede Fabrikhalle ist mehr Architektur als dieser Schrott. Weg mit der Pseudofassade und was strukturell Ehrliches an dessen Stelle gesetzt! Oder wie war noch das Argument dieser Architekten, mit dem diese im Rundumschlag viele ältere Architektur plattgemacht haben? Ich freue mich bloss, dass man diesen Mist jetzt wohl nicht mehr, wie sonst üblich, in irgendwelchen Architketurzeitschriften hochjubeln kann und damit auch Kritik nicht mehr ersticken.

Das musste ich mal loswerden. 
christine
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von christine »

Ich finde das unglaublich, dass so etwas abgenommen wird. Da hätten ja auch Leute drunter stehen können, als der Stahlträger herunterkrachte.

Dieser Bahnhof hat Unsummen Geld verschlungen und für die paar Schrauben hats dann nicht gereicht?! Ausserdem finde ich das eine Frechheit, dort soviel Geld zu verbraten. In Würzburg soll der Bahnhof nicht saniert werden, weil die Bahn kein Geld dafür hat.

Schöne Grüsse Christine
salinodg
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von salinodg »

Nun ja,

das Teil sieht wirklich aus wie aus der typischen Werkstatt der Kistenmacher.
Mich würde zusätzlich mal interessieren, wie denn der ursprüngliche Entwurf aussah. Angeblich hatte die Bahn aus Kostengründen den Gerkan'schen Entwurf geändert und im Moment läuft wohl auch ein Prozess Gerkan ./. Bahn.
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Sven Teske | KS Dahme-Spreewald
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Sven Teske | KS Dahme-Spreewald »

Ahoi,

der Gegenstand des Prozesses zwischen dem Architekten und der Bahn hat nichts mit der Fassadengestaltung zu tun, sondern vielmehr mit der Änderung einer Deckenkonstruktion im Untergeschoß. Der Prozeß ist bereits entschieden : zu Lasten der Bahn. In diesem Fall wohl auch zu Recht. Hatte sich doch, wie so häufig, seine selbstherrlichkeit aus dem Vorstand der Bahn befleissigt gefühlt ohne Absprache mit seinem planenden, oder besser entwerfenden Architekten, das Bauwerk gravierend zu verändern - schließlich sei er doch der Geldgeber - und der darf doch alles - oder ? Diese Auffassung war glücklicherweise auch den Richtern nicht zu vermitteln.

Nun, das mit dem herabfallenden Dekor auf der Fassade ist natürlich eine peinliche Sache. Und in diesem Zusammenhang hat wohl Christine die griffigsten Argumente angeführt. Es ist natürlich unfassbar, wie eine Abnahme eines Verkehrsbauwerkes erfolgen kann, bei dem bereits hohe Windlasten zu einem Versagen der Konstruktion führen. Und das solche Windlasten auch nicht besonders exotisch sind, haben wir spätestens 2002 gelernt. Darüber hinaus sind solche Konstruktionen auch mit mehrfacher Sicherheit auszubilden - insgesamt unverständich. Es erinnert an die Tragödie auf dem neu errichteten Flughafenterminal in Paris vor etwa 2 Jahren (?).

Vor allem ist es aber ärgerlich, wenn solche Verkehrspaläste finanziert werden, während die Strecken ausgedünnt und der Regelunterhalt vieler anderer Verkehrsbauwerke nicht mehr sichergestellt wird.

Ich bin mir übrigens nicht so sicher ob sich die "Bauhäusler", oder die die sich dieser Haltung zum Bauen verschrieben haben, wirklich im Grabe umdrehen würden. Denn mit "Form follows function" ist ja mitnichten gemeint, sich nicht um eine Gestalt zu bemühen - im Gegenteil. Die Auswüchse dieser, nach meiner Auffassung falsch verstandenen, Haltung gipfelte im sog. Brutalismus der 60er und 70 er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - mit fatalen Folgen für den Städtebau. Auch die Erbauer der im Regelfall als gescheitert zu betrachtenden Satellitenstädte beriefen sich auf "form follows function". Hierzu ein kleiner Literaturtip : Die Unwirtlichkeit unserer Städte, von Alexander Mitscherlich, edition suhrkamp.

damit ich nicht falsch verstanden werde : Ich kann selbst einigen Bauwerken des Brutalismus eine hohe gestalterische Qualität abgewinnen - im Regelfall wird sich der Betrachter - zumal der ungeübte - jedoch erschrocken abwenden und sich (meist wohl zurecht) fragen, wie man so zynisch werden kann so etwas zu bauen (bzw. zu planen)...

Natürlich ist es problematisch, die Grenze zwischen einem Gestaltelement und einem beziehungslos applizierten "Fasasadendekor" zu ziehen. Insoweit möchte ich hier noch garnicht bewerten um was es sich hier handelt. Ich neige allerdings eher dazu, einen Gestaltungswillen zu erkennen. Verglichen mit den Bahnhöfen der falsch verstandenen "form follows function" Generation, hat das Büro GMP einen atemberaubendnen, spannenden und mit einer hohen Aufenthaltsqualität versehenen Raum geschaffen - der im Übrigen auch stadträumlich gelungen ist. Diesen Eindruck schmälert auch die Lage von Toiletten nicht. Um es etwas polemisch zu sagen - und das ist in dieser Rubrik ja durchaus erlaubt : Nur die Phantasten berühern die Welt, nicht die Erbsenzähler !

Eine ganze Architektengeneration hat für sich immer die (strukturelle ?) EHRLICHKEIT der Konstruktion in Anspruch genommen und uns die tristesten, ödesten, unmaßstäblichsten und unwirtlichsten Stadträume aufgezwungen. So manch einer kann froh sein, dass derlei Ignoranz menschlicher Bedürfnisse nicht im Strafrecht abgefaßt ist.

Ich denke : auch Gestalt ist function ! Gestalt ist sexy !

das mußte ich mal loswerden.

polarisierend grüßt Euch, Sven.
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salinodg
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von salinodg »

Moin Sven,

2 Mal Danke:

Einmal für die Aufklärung über Gerkan ./. Bahn - und
zweitensfür die Positionsmeldung :)

Bernd
Dietrich Maschmeyer
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Dietrich Maschmeyer »

Ich meinte, dass es einen unterschied macht, ob man aus den notwenigend statischen elementen eine Struktur entwickelt - das scheint mir bei der Halle des Bahnhofes durchaus gelungen - oder ob man, weil einem nichts mehr einfällt, den Reisenglaskasten noch mit einer völlig überflüssigen Vorbaukonstruktion versieht, damit das Ganze noch mehr aussieht wie Raumschiff Orion oder so. Wenn es wenigstens noch Kabelkanäle, Solarheizungen oder sonstwas wären - aber nur "Dekor"? Das ist Historismus in moderner Variante. Wenn dann noch die geplanten "Gewölbe" im tiefgeschoss dazukommen - nicht auszudenken. Im übrigen: Gewölbe sin akustisch äusserst problematisch; auch die Glashalle ist es: Die Lautsprecherdurchsagen sind fast nicht zu verstehen, Aber das ficht ja den grossen, über den Wolken schwebenden Künstlere nicht an, der gestern auch noch im Fernsehen erklärt hat, mit der Ausführung habe er nichts zu tun. Zut Erinnerung: Andreas Schlüter und Balthasar Neumann waren selsbtverständlich für das ganze Baugeschehen bis zur Endabnahme voll verantwortlich!

Dabei besteht ist das eigentliche Meisterwerk meist darin, moderne Architkeutentwürf wie z.B. die sehr problematischen Schiefen Bauten von Frank Gehry so zu bauen, dass es nicht durchregnet usw. die Ausführenden sind die stillen Helden dieses Dramas (bis auf den Hauptbahnhof - da ist wohl was schiefgegangen!)
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Sven Teske | KS Dahme-Spreewald
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Sven Teske | KS Dahme-Spreewald »

Lieber Dietrich Maschmayer,

WELCHEN Unterschied macht es denn, aus "den notwendigen statischen Elementen eine Struktur zu entwicken" oder ein Element ausschließlich aus Gestaltungsgründen zu verwenden ?

Ist es bereits ein Wert an sich, wenn etwas diesem formulierten Anspruch, dem "gestaltgebenden Lastabtrag", genüge tut ? Wohl eher nicht. Das kann, da möchte ich Ihnen beipflichten, ausgesprochen spannende Ergebnisse zeitigen - es kann. Diese (nach meiner Auffassung unzulässig verkürzte) Interpretation von form - follows- function führt in unseren Breitengraden in der Regel auf geradem Wege in die Tristess. Die Stadt Berlin ist voll dieser Zeugnisse EHRLICHER, STATISCH ablesbarer Strukturen - die sind für die Bewohner dieser Stadt leider meist von atemberaubender Ödnis.

Und je weiter ich mich auf das Feld der "Reduktionisten" bewege, desto höher werden die Ansprüche an die Gestaltungsfähigkeit des Architekten und an das "Lesevermögen" der Benutzer, damit es nicht zum Desaster wird. Die hohe Schule dieser Raumbildung (und -benutzung) kann man in Japan bewundern.

- Na, dass das Büro gmp nicht die kompletten Architektenleistungen übertragen bekommen hat, ist bei Bauvorhaben dieser Größenordnung heutzutage der Regelfall. Nicht selten endet der Auftrag bereits nach der Entwurfsphase. Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, da ist auch der Verweis auf die Kollegen Schlüter / Neumann wenig hilfreich, denn deren Fähigkeiten wären wohl kaum geeignet ein Bauvorhaben von der Komplexität eines Bahnhofs dieser Größenordnung zu bewältigen. Das Ergebnis einer arbeitsteilig erbrachten Leistung steht und fällt natürlich auch mit der Qualität des "Dirigenten". Ein solcher würde auch nicht zulassen, dass die "stillen Helden" die Planungsleistungen der Fachplaner oder des Architekten übernehmen müssen.

Hinsichtlich einer Verantwortung sind die Einlassungen von Herrn von Gerkan durchaus nachvollziehbar, soweit er keine Planungsleistungen i.S. einer Ausführungsplanung und einer Bauleitungsleistung erbracht hat, muß er sich diesen peinlichen Vorgang auch nicht zurechnen lassen.

Wenn mal wieder die Sonne scheint, mache ich ein paar Bilder vom Bahnhof und stell die hier ein. Dann können wir uns nochmal über die Sinnhaftigkeit oder die Gestaltkraft der Fassdenelemente austauschen.

Viele Grüße, Sven.
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Dietrich Maschmeyer
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Dietrich Maschmeyer »

Der Vergleich mit Japan greift daneben. Was die traditionelle japanische Gestaltung ausmacht, ist ja gerade die - Zen - absolute Entwicklung aus der Funktion. Deshalb ja gerade die absolute Schnökellosigkeit. Wenn man genau hinsieht, trifft das sogar noch auf die aufwendigen Konstruktionen des Dachgebälkes zu. Wer Architekturelemente ausschliesslich um ihrer selbst Willen errichtet, ist letztlich auch nicht besser als Albert Speer mit seiner Reichsparteitagsarchitektur. Und was von der zu halten sei, tun besagte heutige Architekten ja stetig kund. die Gerkanschen "Gerüste" sind insofern auch nichts anderes als die Kollonnaden des Barock und die Zinnen und Türmchen des Historismus. Wo Gestaltung fehlt, wird dekoriert. Wäre alles nicht so schlimm und durchaus akzeptabel - es gibt ja auch anerkannte Archtiekturen, die von Dekor leben -, wenn von den heutigen Architekten nicht unentwegt behauptet würde, genau das Gegenteil anzustreben. Das ergibt einen unauflöslichen Widerspruch. Die angebliche Nüchternheit ist nur aufgesetzt. Solche Leute können nicht wirklich Kritik daran üben, dass manche auf die Idee kommen, statt "Techno"-Dekor die Kopie einer historischen Fassade vor einen Neubau zu pappen - und sowas droht ja wohl in Berlin.

Dass viele Bauten der fünfziger bis neunziger Jahre öde Kästen sind, ist unbestritten. Das liegt aber daran, dass gefällig dekorieren viel einfacher ist als konsequent - wie die Japaner - aus der Struktur zu gestalten. Letztlich sind auch die Histroismusbauten öde - man betrachte deren Rückfronten - aber zu Strasse eben gefällig dekoriert. Daneben gibt es aber auch andere Bauten der Nachkriegszeit, und nicht nur Renommierbauten wie Stadthallen und Museen, sondern auch ganz gewöhnliche Wohn- und Bürobauten, die ausgezeichnetes Design verraten. Leider sind sie in ihrer Qualität immer noch nicht hinreichend anerkannt: In Münster wird gerade ein erstklassig (!) entworfenes Hochhaus von 1958 abgerissen, um so einer Schicki-Micki-Architektur Platz zu machen.

Mich ärgert das ganze aber auch deshalb, weil diese Schar von angemassten Stararchitekten den Begriff "Baukultur" an sich gerissen hat - was letztlich nichts anderes heisst, als dass sie die Masstäbe vorgeben wollen, nach denen man gutes Bauen definiert. Dass Qualität nicht nur Design betrifft, sondern auch Effektivität - sprich: Kosten -, Qualität und Wartungsfreundlichkeit, sollte selbstverständlich sein.

Und da stellt es für mich schon einen entscheidenden (!) Mangel dar, wenn eine Hall voller Echos ist, Toiletten aus Designgründen irgendwo weit weg und Nutzer- wie putzunfreundlich weggedrückt werden, dafür aber für vermulich sehr viel teures Geld Hollywood-Attrappen von Statik vor die Fassade gehängt werden, von denen dann auch noch eine Lebensgefahr für die Leute unten drunter ausgeht (Zugegeben, Gerkan unterstelle ich nicht, dass er sie so wacklig befestigen wollte). Wahre Kunst aber - gerade wenn man das japanische (und dänische) Gestaltungsideal nimmt - scheint mir eher in der Kunst des Weglassens als in der des Wegdekorierens zu bestehen.
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Ulrike Nolte
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Ulrike Nolte »

Hallöle,

man kann mit Deko sehr schön gestalten, sofern man so etwas wie Geschmack besitzt ... Bekanntlich sind Geschmäcker aber verschieden.

Was Herr Oberconducteur wohl für Erklärungen parat gehabt hätte wenn Menschen zu Schaden gekommen wären? Ich dachte, mich tritt ein Pferd als ich hörte, dass die Stahlträger nicht befestigt worden sind. Ja, haben die Verantwortlichen denn noch alle Tassen im Schrank?

Dieses tolle Kunstwerk passt sehr gut ins Gesamtkonzept des neuen Berlin: nicht kleckern, sondern protzen. Das Regierungsviertel ist voll von solchen Beispielen. Das Kanzleramt erschlägt einen fast, die Parteipaläste sehen allesamt gleich häßlich aus, der Hochsicherheitstrakt des Finanzministers macht Angst, die Glaskuppel auf dem alterwürdigen Reichstagsgebäude sieht wie ein Fremdkörper aus, ...

Ich durfte (Alt-) Berlin mit den Augen eines Altberliners sehen und fand es wunderschön, wenn auch sehr blass.

Grüßles
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Sven Teske | KS Dahme-Spreewald
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Über Stadtbrachen, "form - follows - function" und Japaner

Beitrag von Sven Teske | KS Dahme-Spreewald »

Lieber Dietrich Maschmeyer,

wie so häufig, MUSS ich Ihnen wieder einmal widersprechen.
Der Vergleich mit Japan greift daneben. Was die traditionelle japanische Gestaltung ausmacht, ist ja gerade die - Zen - absolute Entwicklung aus der Funktion. Deshalb ja gerade die absolute Schnökellosigkeit. Wenn man genau hinsieht, trifft das sogar noch auf die aufwendigen Konstruktionen des Dachgebälkes zu.
Der Vergleich ist durchaus zutreffend -  Ihre Ausführungen über den inneren Zusammenhang der traditionellen japanischen Architektur und ?form ? follows ? function? hingegen, nach meiner Auffassung, nicht. Entgegen Ihrer Darstellung ist das Besondere der traditionellen japanischen Gestaltung die Raumbildung, die sogar soweit geht, dass das selbst das NICHTS verräumlicht wird. Auch ist gerade Japan dafür bekannt, dass geradezu alles, selbst das Essen, DEKORATIV und, man denke an die Teezeremonie, auch ritualisiert dargebracht wird. Die Gestaltung von Räumen wird vor allem INSZENIERT, da steht die EINE Blume an der BESTIMMTEN Stelle im Raum, da wird ein BESTIMMTER Blick nach außen Teil des Raumes. Dieser ?Reduktionismus?, oder besser Purismus, setzt zum einen eine kulturelle Verankerung voraus, zum anderen sind die Ansprüche sowohl an den Gestaltenden als auch an den Benutzenden / ?Lesenden? sehr hoch.

Nichts ist beliebig. Nichts ist Struktur. Alles ist Gestalt.

(es beschleicht mich das Gefühl, dass wir den Strukturbegriff fassen müssen)
Wer Architekturelemente ausschliesslich um ihrer selbst Willen errichtet, ist letztlich auch nicht besser als Albert Speer mit seiner Reichsparteitagsarchitektur. Und was von der zu halten sei, tun besagte heutige Architekten ja stetig kund.
Klar, selbst Totschlagargumente müssen nun dafür herhalten, einen Sachverhalt zu behaupten und jeden Widerspruch im Keime zu ersticken. Ich tue es trotzdem und darf Sie davon in Kenntnis setzen, dass gerade die Bauten von Albert Speer in der Architektenschaft mindestens umstritten sind. Nicht Wenige können z.B. der Neuen Reichskanzlei etwas abgewinnen. Aber das führt hier vermutlich zu weit?.
die Gerkanschen "Gerüste" sind insofern auch nichts anderes als die Kolonnaden des Barock und die Zinnen und Türmchen des Historismus. Wo Gestaltung fehlt, wird dekoriert.
Das ist und bleibt eine Behauptung. Ob dem Bahnhof die Gestaltkraft fehlt, lässt sich wohl nur durch einen Ortstermin entscheiden. Vielleicht machen wir das einmal zusammen ??
Wäre alles nicht so schlimm und durchaus akzeptabel - es gibt ja auch anerkannte Architekturen, die von Dekor leben -, wenn von den heutigen Architekten nicht unentwegt behauptet würde, genau das Gegenteil anzustreben. Das ergibt einen unauflöslichen Widerspruch. Die angebliche Nüchternheit ist nur aufgesetzt.
Ich halte sie nicht für aufgesetzt. Sie entspringt vielmehr einem STÄDTISCHEN Bedürfnis nach Reduktion. In einer Stadt wie Berlin, die den Bewohnern ein hohes Tempo (für deutsche Verhältnisse), eine permanente Verfügbarkeit sowie eine optische und auditive Reizüberflutung aufzwingt, ist das auch nachvollziehbar. Insoweit können (gut gemachte) reduzierte, öffentliche Räume einen geradezu kontemplativen Charakter haben.
Dass viele Bauten der fünfziger bis neunziger Jahre öde Kästen sind, ist unbestritten. Das liegt aber daran, dass gefällig dekorieren viel einfacher ist als konsequent - wie die Japaner - aus der Struktur zu gestalten.
Also von GEFÄLLIG dekoriert, sind die typischen Berliner Stadtbrachen nun wirklich Lichtjahre entfernt. Wenn´s denn mal so wäre?. Hier scheint mir Ihr Argument etwas widersprüchlich zu sein.
Letztlich sind auch die Historismusbauten öde - man betrachte deren Rückfronten - aber zu Strasse eben gefällig dekoriert.
Ja, aber das ist wohl nur für einen etwas geschulten Blick so, die ?Normalbetrachter? suchen eben das ?Altstadtflair?. Ich werde nicht vergessen welche Reaktionen ich im Zuge einer Architekturexkursion nach Wien erleben durfte, als wir uns ein geradezu epochales Gebäude von Adolf Loos, das Haus am Michaelaplatz, angesehen haben. Umstehende ältere Herrschaften einer deutschen Reisegruppe wollten gar nicht glauben, das jemand an diesen Platz kommt ?um sich so was anzusehen?. Diese Reaktion ist nur zu verstehen, wenn man weiß das Wien die Stadt ist, in der der gründerzeitliche Stuck im öffentlichen Straßenraum geradezu über einem zusammenwächst. Von Adolf Loos, dem Architekten des Hauses, stammt denn auch das Zitat : ?Ornament ist Verbrechen?. ? eine Wohltat dieses Haus - gleichwohl halten es die meisten für einen entdekorierten Kriegsschaden?

Das Verhältnis zum Dekor ist offensichtlich sehr unterschiedlich.
Mich ärgert das ganze aber auch deshalb, weil diese Schar von angemassten Stararchitekten den Begriff "Baukultur" an sich gerissen hat


Mich ärgert das offengestanden nicht. Ich bin vielmehr froh darüber, dass unser Berufsstand den Versuch unternimmt, seine ureigenste Domäne wieder zu besetzen, die zwischenzeitig Investoren, Fertighausbauer und die Ökoheinis für sich besetzt hatten. Die diesbezüglichen Bemühungen gehen weit über die ?angemaßten Stararchitekten? hinaus. Vielleicht verbinden wir den Bahnhofstermin mit einer Exkursion zeitgenössischer Architektur in Berlin / Brandenburg. Ich möchte auch zugeben, dass das öffentliche Gebaren des Kollegen von Gerkan nicht eben förderlich für unseren Berufsstand ist. Und es ist natürlich diskutabel, ob man sich an der einer Untergeschoßdecke derart delektieren sollte - erst Recht wenn man damit Kosten in erheblicher Höhe und faktische eine Entmündigung des eigenen Bauherrn auslöst. Das kommt unzweifelhaft nicht gut an.
Dass Qualität nicht nur Design betrifft, sondern auch Effektivität - sprich: Kosten -, Qualität und Wartungsfreundlichkeit, sollte selbstverständlich sein.

Und da stellt es für mich schon einen entscheidenden (!) Mangel dar, wenn eine Hall voller Echos ist, Toiletten aus Designgründen irgendwo weit weg und Nutzer- wie putzunfreundlich weggedrückt werden?
Unser aller Problem ist, das wir nicht einschätzen können wie weit die Planungen des Büros gmp mit dem heutigen Zustand korrespondieren. Insoweit finde ich jeden Vorwurf schlicht vermessen, der sich an konkreten Mängeln, gleich welcher Art, festmacht.

Allerdings hat mich gestern die Nachricht erreicht, das das Büro gmp angeblich einen Generalplanervertrag hatte. Wenn das so sein sollte, dann hat sich Herr von Gerkan und dem ganzen Berufsstand einen Bärendienst erwiesen. Warten wir es ab....
Wahre Kunst aber - gerade wenn man das japanische (und dänische) Gestaltungsideal nimmt - scheint mir eher in der Kunst des Weglassens als in der des Wegdekorierens zu bestehen.
Das ?weglassen? ist eben leider auch ambivalent. Je weiter wir nach Norden kommen, je mehr weggelassen wird, desto öder wird es auch. In Nordnorwegen trank man vor 20 Jahren vornehmlich Wasser zum Essen. Ich trinke lieber Wein. Der Kontinentaleuropäer ist wohl eher ein barocker Typus.

Viele Grüße, Sven
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Sven Teske | KS Dahme-Spreewald »

Ranunkel hat geschrieben: Hallöle,

man kann mit Deko sehr schön gestalten, sofern man so etwas wie Geschmack besitzt ... Bekanntlich sind Geschmäcker aber verschieden.

Was Herr Oberconducteur wohl für Erklärungen parat gehabt hätte wenn Menschen zu Schaden gekommen wären? Ich dachte, mich tritt ein Pferd als ich hörte, dass die Stahlträger nicht befestigt worden sind. Ja, haben die Verantwortlichen denn noch alle Tassen im Schrank?

Dieses tolle Kunstwerk passt sehr gut ins Gesamtkonzept des neuen Berlin: nicht kleckern, sondern protzen. Das Regierungsviertel ist voll von solchen Beispielen. Das Kanzleramt erschlägt einen fast, die Parteipaläste sehen allesamt gleich häßlich aus, der Hochsicherheitstrakt des Finanzministers macht Angst, die Glaskuppel auf dem alterwürdigen Reichstagsgebäude sieht wie ein Fremdkörper aus, ...

Ich durfte (Alt-) Berlin mit den Augen eines Altberliners sehen und fand es wunderschön, wenn auch sehr blass.

Grüßles
Ulrike
Liebe Ulrike,

welches Altberlin meinst Du denn ? Da ich altersbedingt nicht das Vorkriegs- Berlin erleben durfte, habe ich vor allem die unendlichen Weiten der Nachkriegsstadtbrachen vor dem geistigen Auge, wenn an das "Altberlin" denke. Um mal in der Gegend um den Hauptbahnhof (der ja früher Lehrter Stadtbanhof hieß) zu bleiben : Dieser Bereich, einschließlich dem heutigen Regierungsviertel und des Potsdamer Platzes waren in "Vorwendezeiten" sog. Reserverflächen, die durch den Senat und den Bund für den Fall einer Wiedervereinigung freigehalten wurden. So entstand ein riesiges, teilweise zubetoniertes (blasses ??), zugiges Areal ohne jede Aufenthaltsqualität. Um das Ganze "noch attraktiver" zu machen, wurden auch noch große mehrspurige Straßen durch diesen Stadtraum durchgeführt und an seinen Rändern Industrieflächen, Barackenbauten die noch aus der Nachkriegsnot entstanden waren und einfallslosester sozialer Wohnungsbau der 60er Jahre errichtet. Bezeichnender Weise sehe ich diese Gegend immer nur in Grautönen in meiner Erinnerung - es sind allerdings kalte, harte Grautöne - gepaart mit Wind und staubiger Luft.

Die Grautöne wollen auch einfach keine Farbe annehmen, wenn ich mir die Erzählungen meiner Großeltern vergegenwärtige, die in Moabit im 3. Hinterhof und im Wedding aufgewachsen sind. Auch dieses Berlin war (mindestens in meiner Vorstellung) ziemlich trist und grau. Aber vielleicht meinst Du eher großbürgerliche Ecken in Berlin ?

Gruß, Sven.
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Ulrike Nolte
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Ulrike Nolte »

Hallo Sven,

ich durfte vor 3 Jahren gerade den Wedding, Kreuzberg und Reinickendorf zusammen mit meinem über 80 jähr. Vater zu Fuß erkunden. Vater ist in Reinickendorf geboren, im Wedding groß geworden und in Kreuzberg zur Lehre gegangen. Damals, zur Lehrzeit, ist er jeden Tag 2 x quer durch Berlin Mitte geradelt. Wir haben 1 Woche gehabt, eine Woche voller Überraschungen.

Es gibt im Grunde kein zusammenhängendes Altberlin mehr, schließlich ist diese Stadt im letzten Krieg arg gebeutelt worden. Aber es gibt einzelne Häuser und Ecken, und vor allem gibt es noch einige wenige Hinterhöfe mit Zille-Charakter. Die zwar auch schon schwer gelitten haben, aber der alte Glanz lebt noch in wenigen Details. Ich erinnere mich ganz besonders an die Gegend um das Kurt-Schuhmacher-Haus (SPD-Geburtsstätte). Dort gibt es zwei herausragende Theater, quasi sich gegenüber stehend. Im Innern noch die alte Einrichtung aus der Zeit um 1920/30. Ich erinnere mich auch an einige Hinterhöfe, die noch die alten Durchgangstore haben und in den Treppenhäusern alte Kachelwände und -böden. Ich habe manche alte Lampe in diesen Torbögen gesehen, Treppen und Geländer, Fenster, Türen, etc..
Eine Altberliner Kneipe ist mir auch noch im Gedächtnis und eines der legendären Frühstückcafe's. In beiden die alte Einrichtung, inkl. der riesigen Kronleuchter und Wandlampen aus den 20igern.

Es sind viele kleine Details, für die man ein Auge haben muss, bzw. muss man draufgestoßen werden. Die Augen dafür hat mir mein Vater geöffnet, alleine hätte ich sie vermutlich nicht gefunden. Und vor allem muss man sie von einem Menschen gezeigt bekommen, der "seine" Stadt liebt. Das Wesentliche sieht man eben nur mit dem Herzen.

Und ganz nebenbei - lass Dich von mir durch meine Heimatstadt (Stuttgart) führen - Du wirst Ecken kennen lernen, die Du nicht vermutet hättest. Auch diese Stadt wurde fast komplett dem Erdboden gleich gemacht - und trotzdem lebt Alt-Stuttgart in dem Wenigen fort.

Es ist wie mit unseren alten Häusern ...

Grüße
Ulrike
"Wenn du wirklich etwas willst, werden alle Märchen wahr." (Theodor Herzl)
Mehr über meine wahr gewordenen Märchen ist hier nachzulesen
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Sven Teske | KS Dahme-Spreewald
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Re: Berliner Hauptbahnhof - Tiefschlag für die Baukultur

Beitrag von Sven Teske | KS Dahme-Spreewald »

Liebe Ulrike,

Stuttgart würde ich mir gerne zeigen lassen, von meinen beiden "Durchfahrten" durch die Stadt ist mir eher eine unattraktive Stadt in Erinnerung geblieben - da kann kann Insiderwissen hilfreich sein. Vielleicht gibt es ja mal eine IGB-tagung im Schwabenland....

Gruß, Sven.
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